Tropische Hitze, fremde Tierlaute und exotische Pflanzen – daran denken wohl die meisten beim Wort „Urwald“. Doch auch in Deutschland, Tschechien oder Spanien gibt es noch Jahrhunderte alte Wälder, die fernab von menschlichen Einflüssen wachsen und gedeihen. Zum Schutz dieser Naturlandschaft wurde im Jahr 1971 der „Internationale Tag des Waldes“ von der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) ausgerufen, um auf die globale Waldzerstörung aufmerksam zu machen. Zu diesem Ehrentag am 21. März stellen wir Europas beeindruckende Urwälder vor und wie man diese auf achtsame Weise entdecken kann.
Insel Vilm bei Rügen (Deutschland)
Auf der rund 94 Hektar großen Insel Vilm, die knapp fünf Kilometer vor der Südküste Rügens liegt, wächst seit Jahrhunderten einer der letzten Urwälder Europas. Einige der Baumriesen sind rund 650 Jahre alt, denn seit dem Jahr 1527 wird der Natur hier freien Lauf gelassen. ZU DDR-Zeiten war Vilm das bevorzugte Urlaubsdomizil der SED-Politiker Erich Honecker und Walter Ulbricht. Die ehemaligen Ferienhäuser stehen heute noch und beherbergen das Bundesamt für Naturschutz und die Naturschutzakademie. Ein Insel-Besuch geht dabei mit einem Hauch Exklusivität einher: Am Tag dürfen maximal 60 Besucher das kleine Naturschutzgebiet auf einer rund zweieinhalbstündigen geführten Tour erkunden. Das Motorschiff „Julchen“ bringt Naturinteressierte in rund 15 Minuten Fahrzeit vom Lauterbacher Hafen bei Putbus auf Rügen in das altertümliche Waldparadies.
Rothwald (Niederösterreich)
Im 3.500 Hektar großen Wildnisgebiet Dürrenstein, am Rande der Niederösterreichischen Kalkalpen, befindet sich der Rothwald – ein kleiner Rest Urwald in den Ostalpen, der seit Jahrtausenden sich selbst überlassen ist. Dank dem eigenständigen Ökosystem erreichen die hier gewachsenen Bäume wie Eiben oder Tannen einen Altersrekord von 500 bis zu 1.000 Jahren und schaffen so Lebensraum für bis zu 800 Pilz- und Moosarten. Seit 2017 ist der österreichische Urwald Teil vom UNESCO-Weltnaturerbe „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas". Um diesen besonderen Naturschatz erlebbar zu machen, bietet das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal diverse Führungen und Exkursionen an, etwa ein „Besuch der tausendjährigen Eibe“ oder „Das Wildnisgebiet als Lebensraum für Bär, Wolf und Luchs“.
Nationalpark Białowieża (Polen / Belarus)
Gut dreieinhalb Autostunden östlich von Polens Hauptstadt Warschau entfernt liegt der Nationalpark Białowieża an der polnisch-belarussischen Grenze. Seit 1979 gehört der polnische Teil zum UNESCO-Welterbe, seit 1992 zählt auch der belarussische Part dazu. Das Gebiet umfasst den letzten Flachland-Urwald Europas und ist die Heimat des Europäischen Bisons, auch Wisent genannt, der das Wahrzeichen des Parks ist. Die grenzübergreifende Waldfläche beläuft sich auf rund 1.500 Quadratkilometer, wobei zwei Fünftel auf polnischer Seite liegen. Rund 11.000 verschiedene Tierarten wurden in dem Naturschutzgebiet bereits gezählt und das Durchschnittsalter der Bäume beläuft sich auf 130 Jahre. Einige der Baumriesen werden sogar auf bis zu 500 Jahre geschätzt. Ein kleiner Teil des Urwaldes kann auf ausgewiesenen Pfaden und lizensierten Führungen erkundet werden.
Urwald Boubín (Tschechien)
Wer einen Ausflug in den Nationalpark Bayerischer Wald unternimmt, sollte einen Abstecher in den nahegelegenen tschechischen Nationalpark Šumava einplanen: Der dortige Urwald Boubín, der sich auf Deutsch Kubany-Urwald nennt, besteht aus 40 bis 60 Meter hohen Buchen, Fichten und Tannen, die bis zu 400 Jahre alt sind. Der sogenannte „Fichtenkönig“, die bis dato größte Fichte im Waldgebiet, fiel 1970 einem Sturm zum Opfer – er war 58 Meter hoch und betrug einen Stammumfang von rund fünf Metern. Seltene Pflanzen- und Tierarten wie Torfmoos, Luchs oder Auerhahn sind im Nationalpark beheimatet. Das ursprüngliche Waldgebiet verteilt sich auf 47 Hektar und wurde bereits 1858 zum Naturschutzgebiet erklärt. Ein vier Kilometer langer Lehrpfad führt um den Urwald herum und der 21 Meter hohe Kubany-Aussichtsturm bietet bei guten Sichtverhältnissen Ausblicke bis zu den Alpen.
Nationalpark Poloniny (Slowakei)
Im östlichsten slowakischen Nationalpark gedeihen ursprüngliche Buchen- und Tannenwälder. Die Urwälder Stužica, Rožok und Havešová, die hier zu finden sind, stehen seit 2007 auf der Liste des UNESCO-Weltnaturerbes „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“. Neben einer Vielzahl an seltenen Tieren und Pflanzen fühlen sich auch große Raubtiere wie Braunbär, Wolf oder Wildkatze heimisch. Rožok ist mit 67 Hektar das kleinste Teilgebiet im UNESCO-Naturerbe, während in Havešová die höchsten Buchen der Welt stehen – diese erreichen eine Größe von bis zu 56 Metern. Neben ihnen wachsen im Naturreservat nur drei weitere Baumarten: Der Bergahorn, die Esche und die Bergulme. Im Stužica-Urwald sind die Buchen rund 200 Jahre alt, die Weißtannen und Bergahorne erreichen bis zu 300 Jahre. Auf Lehrpfaden und Wanderwegen kommen Besucher in den antiken Naturgenuss.
Nationalpark Retezat (Rumänien)
Der Urwald im Nationalpark Rezetat, im Westen Rumäniens gelegen, besteht unter anderem aus altgewachsenen Buchen, Fichten oder Tannen sowie aus Kiefern und Rhododendren. Viele Raubtierarten, wie Bären, Wölfe oder Luchse, aber auch Wildschweine, Rehe oder Fischotter sind in der unberührten Natur zuhause. Dennoch ist das Gebiet für Wanderer gut erschlossen – 27 markierte Wanderwege führen durch das Reservat. Für Touristen stehen weitere Informationspunkte sowie zwei Besucherzentren zur Verfügung. Für längere Aufenthalte im Nationalpark Retezat stehen Berghütten oder ausgewiesene Campingplätze bereit. Obwohl er als einer der letzten Urwälder Europas gilt, ist er stark von illegaler Holzrodung betroffen.
Biogradska Gora (Montenegro)
Im Nationalpark Biogradska Gora in Montenegro besteht der 1.600 Quadratmeter große Urwald aus einigen der ältesten Bäume Europas. Das Waldgebiet ist gut eineinhalb Autofahrstunden nördlich von der Hauptstadt Podgorica entfernt. Eine Fülle an unterschiedlichen Tier- und Pflanzenarten haben sich hier niedergelassen. Rund um den Biogradsko Jezero, dem größten Gletschersee im Nationalpark, wachsen Rotbuchen, Ahornbäume und Eschen bis zu 45 Meter in die Höhe und erreichen ein stattliches Alter von bis zu 500 Jahren. Ein 3,5 Kilometer langer Wanderweg führt rund um den See und durch den Urwald hindurch – in der Hochsaison ein wahrer Touristenmagnet. Wer einen Blick von weit oben erhaschen möchte, lässt im 21 Meter hohen Aussichtsturm, der 2009 eröffnet wurde, seine Blicke über den Gletschersee und die alten Baumbestände schweifen.
Muddus/Muttos-Nationalpark (Schweden)
Im hohen Norden, in Schwedisch-Lappland, findet sich im Muddus/Muttos-Nationalpark, ein Kiefern-Urwald, der seit 700 Jahren ungestört wächst. Seit 1996 gehört das Gebiet zum UNESCO-Weltnatur- und -kulturerbe Laponia. In dem am wenigsten erschlossenen Waldgebiet Schwedens finden sich auch Moore, kleine Inseln oder die 2,5 Kilometer lange und bis zu 70 Meter tiefe Måskåkårså-Schlucht. Lediglich die indigene Bevölkerung Lapplands, die Sami, nutzt das Gebiet zum Weiden ihrer Rentierherden. Das Waldgebiet ist ein Paradies für verschiedene Vogelarten, wie dem Prachttaucher oder Auerhahn, doch auch Bären oder Elche kreuzen ab und zu die Wanderwege. Mehrere ausgeschilderte Routen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden sowie Übernachtungshütten oder Zeltplätze laden zu einer Wanderung zwischen den Baumriesen ein.
Nationalpark Garajonay auf La Gomera (Spanien)
Ein einzigartiges Ökosystem liegt mit rund 4.000 Hektar geschützt im Inselinneren von La Gomera und nimmt rund zehn Prozent der Kanarischen Insel ein: Der prähistorische Urwald Garajonay. Seit 1986 steht der immergrüne Wald als UNESCO-Welterbe unter Schutz. Die zu Urzeiten weit verbreiteten subtropischen Laurisilva-Wälder, auch Lorbeerwälder genannt, sind hier heimisch und bilden das größte zusammenhängende Gebiet Europas. Durch seine Lage ist die grüne Landschaft häufig mit dichtem Nebel bedeckt und es herrscht eine feucht-kühle Luft. So gedeihen unter anderem auch bis zu zwei Meter hohe Farne, Bartflechten oder Moose und sorgen für echtes Dschungel-Feeling. Der vier Kilometer lange Rundweg „Las Cresces“ bietet sich für eine Tour durch den Nebelwald an. Der Startpunkt dieser Wanderung liegt in dem kleinen Ort Las Hayas, rund 30 Autofahrtminuten von der Inselgemeinde Valle Gran Rey entfernt.